Ich hatte von meinem Mann eine dünne Holzscheibe gezeigt bekommen, die beim Absägen eines Pfahls abgefallen war. "Halt! Nicht wegwerfen!", rief ich und nahm sie erst mal mit auf meinen Schreibtisch. Ein paar Tage später telefonierte ich mit einer Freundin und begann mit dem, was andere Menschen Telefonkritzelei nennen. Ich habe auf meinem Schreibtisch mehrere Buntstiftsortimente stehen, die ich farblich nach kalten und warmen Tönen sortiert habe. So fing ich - völlig abgelenkt durch das angeregte Plaudern - an zu kolorieren. Nach dem Telefongespräch hatte ich den unteren Teil der Scheibe fertig. Und beim Betrachten sah ich plötzlich etwas, kolorierte den oberen Teil mit einer anderen Farbfamilie und schon dabei entstand in meinem Kopf dieser Text zum Bild:
Als der Schöpfer die Meere
erschaffen hatte, darin vielerlei Getier schwamm, darunter auch die Fische,
wollte sich eines dieser Tiere nicht mit der Grenze des Wassers abfinden.
Was mochte wohl darüber sein?
Die Neugier des ihm innewohnenden
Schöpferwesens lockte es immer wieder an diese Grenze heran. Hatte es doch
alles ausgelotet, was unter dieser Grenze existierte.
Niemals würden sich Lebewesen aller
Art damit abfinden, sich mit dem ihnen zugewiesenen Raum zu begnügen. Einzelne
von ihnen sollten als Pioniere zu allen Zeiten ausbrechen und dabei ganz neue
Räume erkunden.
Ein helles Licht durchdrang diese
Grenze von oben, war aber nur undeutlich erkennbar.
Wie sehr drängte das Sehnen diesen
Einzelgänger nun nach etwas ganz Neuem, nach etwas noch nie Erfahrenem. Wie
sehr drängte es ihn, tief herabzutauchen in sein bekanntes Lebensreich und von
dort einen riesigen Anschwimm zu nehmen, der es ihm ermöglichen sollte, die
Wasserfläche zu durchbrechen.
Wie farblos erschien ihm inzwischen
das ihm nur zu gut bekannte Lebensreich, bis er seinen Körper im Aufsteigen
drehte, drehte und drehte …
und dabei in einem spiraligen
Auftrieb urplötzlich die Grenze seines Reiches durchstieß. Eine ungeahnte
innere Kraft war dabei sein Motor gewesen.
Sein Sehnen hatte all seine
Ängste übertönt und mit einem mutigen Sprung war es ihm so gelungen durchzubrechen und das wärmende Antlitz des
glühenden Lichts im für ihn völlig neu entdeckten Raum zu schauen. Mit seinem
Sehnen hatte sich schon längst die körperliche Fähigkeit des Atmens in ihm
entwickelt. So zog er mit den ihm gewachsenen Lungen einen tiefen Zug aus der
Luft, die sich über der Grenze seines Reiches befand und zugleich füllte er
sich mit dem Licht des überwässerigen Bewusstseins. Mit neu erworbenem Wissen,
das seine vorherige Ahnung ersetzte, kehrte der Pionier zurück in sein
bekanntes Nass, wo er fortan von seinem Erlebnis Zeugnis gab. Es war fast
unmöglich, den anderen zu vermitteln, was sie hinter der Grenze ihrer Welt
erwarten würde. Es war fast so, als wolle man einem lebenslang Blinden die Welt
der Farben erklären, für die dieser nicht den entsprechenden Sinn entwickelt
hatte.
Einen Weg, die Seelen der
Sehnsüchtigen mit dem Wunder des Lebens zu befruchten, ist die Form des
Märchens. Und aus diesem Grunde wurde dieses Märchen vom Fisch, der durch die
Wassergrenze stieß und sich dabei in einen Wal verwandelte, geschaffen.
All-so wird es auch immer
einzelne Menschen geben, denen ihr irdisches Daseinsfeld nicht genügt und die
die Grenze zum Über- oder Außerirdischen, zur nächsten Dimension zu durchstoßen
versuchen. Was mag hinter der Grenze des luftigen Daseins existieren? Hat der
Mensch schon die Organe in sich vorbereitet, die zum Eintauchen in diese
nächste Dimension erforderlich sind? Und was wird ihn, den ewig Neugierigen,
hinter dieser Grenze erwarten?
Es gibt Menschen, die bereits
fühlen, dass es eine weitere Existenz hinter der Grenze ihrer beschränkten
Sehfähigkeit gibt. Beim Träumen und / oder kreativen Tun ahnen sie bereits, was
sie in diesem neuen Raum erwartet. Es bedarf der Geduld der Evolution, um die
erforderlichen Körperorgane umzuschulen. Oft sind es noch nicht klar zu
umreißende Wahrnehmungen, die solchen Menschen zuteilwerden, doch ahnen sie das
Morgenrot einer noch unbekannten Welt, die schon ewig existiert.
Wir dürfen uns geduldig darauf
freuen, unser Sein als weiter und größer erfahren zu können, wenn wir aus dem
uns bekannten Leben in ein neues hineinschießen, in dem das Licht des
Bewusstseins heller und schöner erscheint, als wir es je in unseren Träumen
wahrnehmen konnten.
Es gibt für uns Menschen am Rande
unserer irdischen Existenz ein besonderes (fast über-)irdisches Phänomen, das
uns ein nur schwaches Abbild davon gibt, was uns in der nächsten Dimension erwarten
könnte …
REVONTULI
DAS POLARLICHT
Anmerkung:
Aus wissenschaftlicher Sicht ist
der Wal aus einem Landtier, einem Huftier des Eozäns hervorgegangen. Dies ist
der Autorin des vorangegangen Textes sehr wohl bewusst, doch soll der Text eine
Parabel über die treibenden Kräfte der Evolution darstellen.
© Rêvant-Uli am 2.
April 2017